Auszug: 'Breit und hell fiel ein Strahl der Frühlingssonne durch das verstaubte Bogenfenster einer Dorfkirche. Er durchschnitt als warmer, glänzender Streifen die graue Dämmerung und verlor sich hinter weißem Gitter in den schattig-feuchten Tiefen des Pfarrstuhles, den mehrere festlich gekleidete Herren und Damen besetzt hatten. Mitten in der Lichtbahn stand die Konfirmandin vor dem Altar. Das kleine Kreuz auf ihrer Brust glühte gleich einem überirdischen Symbol, und wie ein Kranz weltlicher Herrlichkeit flimmerte, von tausend Goldfunken durchsprüht, das braune Haar über dem rosenroten, tränenbetauten, feierlichen Kindergesicht. Sie stand ganz allein an dem heiligen Orte, durchschauert von der Bedeutung des Augenblicks - bangend, das Gelübde auszusprechen, das auf ihren Lippen schwebte und sie für ein Leben der Wahrheit und der Heiligung unwiderruflich verpflichten sollte. Hinter ihr, zwischen den schmalen Holzbänken, hörte sie das Gepolter einiger niederknienden Tagelöhnerkinder, die bereits die Einsegnung empfangen hatten. Agathe wünschte plötzlich mit krankhafter Heftigkeit, unter den peinlich glattgekämmten und rotgeseiften Köpfen, den ungeschickten Gestalten dort sich verbergen, sich an der Gemeinschaft mit ihnen stärken zu können.
Über den Autor Gabriele Reuter
Gabriele Reuter (1859-1941) war eine bedeutende deutsche Schriftstellerin und zu Lebzeiten sehr erfolgreich. Mit Aus guter Familie (1895) wurde sie über Nacht berühmt.Tobias Schwartz, geb. 1976, ist Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker. Er schreibt u.a. für den Tagesspiegel und hat zuletzt Werke von Virginia Woolf und Aphra Behn übersetzt. 2024 erschien seine Erzählung Im Nebel.